Erinnerungen

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Als ich noch klein war, sind wir mal zu zweit mit dem Fahrrad am Horlachegraben entlanggefahren. An diesem liegt das Rüsselsheimer Waldschwimmbad, wo wir kurz halt machten. Hinter dem Zaun gab es nämlich einen Spielplatz in Form eines Schiffes, den ich mir als kleiner Steppke unbedingt anschauen wollte.

Mit Eintritt an der Kasse zahlen war zu dieser Jahreszeit allerdings nichts – es war wohl im Herbst oder Frühjahr. Also ist der kleine Mario zusammen mit der Dame um die siebzig über den Zaun geklettert. Von da an hatte sie bei mir den Zusatz „Power“. Ich erinnere mich noch gut daran. In den frühen 90ern sind wir mit ihrem feuerroten Calibra mal zur Metro nach Mainz-Kastel zum Einkaufen gefahren.

In meiner Kindheit habe ich auch ein paar Mal bei ihr übernachtet. Ich hatte schreckliche Angst vor der Steckdose an der Tür, weil diese einmal das Einführen von einem Stecker mit Funkenschlag quittierte. Geschlafen habe ich immer im Gästezimmer. Ich hatte viel Spaß mit ihr. Sie war immer gut gelaunt, nie krank und hatte immer einen weisen Rat für mich parat. Auch als ich älter wurde. Sie kritisierte meinen Kleidungsstil bei Vorstellungsgesprächen. „Aber das musst du ja selbst wissen, früher wäre das nicht gegangen,“ hörte ich sie sagen. Dann Tage an denen sie mir gegen meinen Willen Geld in die Hand drückte. Selten 10, öfters 20, manchmal gar 50 Euro Scheine, die ich gar nicht annehmen konnte. „Jetzt nimm es und steck es ein“. Mama und Papa durfte ich davon natürlich nichts erzählen, weil sie dann mit ihr geschimpft hätten.

Vor zehn Jahren hatte ihr Mann dann im Urlaub in Spanien einen Schlaganfall. Er war von nun an auf einer Körperhälfte gelähmt und bekam einen Rollstuhl. Sie pflegte den großen und schweren Mann mit ihrer ganzen Liebe, die sie zu ihm hatte. Sie, die kleine Frau half ihm durch die Wohnung, ins Bett, wusch ihn und machte für ihn alles, um es für ihn angenehm zu machen. Geistig ist er übrigens absolut fit und kann mir heute noch die kleinsten Details aus der Zeit des Krieges, davor und danach erzählen. Er weiß noch alles. Er saß jeden Tag auf seinem elektrisch verstellbaren Stuhl im Wohnzimmer. Sie direkt gegenüber auf einem Sessel. Sie lasen die Bild Zeitung, telefonierten, ja verschickten sogar Faxe. Das Fax-Gerät war das modernste Gerät im Haushalt und sie war stolz darauf es bedienen zu können, damit Kopien zu erstellen und all die tollen Dinge. Sie war immer sehr neugierig auf die neue Technik, die junge Leute jeden Tag umgibt. Oft sprach sie mit mir dann über das Internet oder E-Mail, das sie wie „Emaille“ aussprach. Die Frucht Satsuma sprach sie gerne als „Satzemuus“ aus und Nachbarin hieß nicht Frau Köpff, sondern „Frau Köpke“. Diese lernte sie kennen, wenn wir im Urlaub waren und sie auf das Haus aufpassen durfte. Wenn meine Eltern ohne mich weggefahren sind, hat sie mir oft was vorbeigebracht. Wenn ich nicht zu Hause war hat sie die Sachen immer auf unsere Terrasse gelegt und mich dann angerufen, um Bescheid zu sagen, damit ich die Sachen ins Haus hole.

Meine Mutter schimpfte oft, dass sie jeden Tag bei uns anrief und dauernd irgendetwas wissen wollte. Aber Menschen in ihrem Alter brauchen nun mal jemandem zum Reden.

Sie kam in letzter Zeit oft bei uns zu Hause vorbei, um uns Leckereien zu bringen, die sie beim Lebensmitteleinkauf gefunden hatte. Erst kürzlich brachte sie eine ganze Kiste Clementinen, weil sie so günstig waren. Sie parkte ihren silbernen Zafira dann immer direkt auf der Straße vorm Haus. Ihr müsst wissen, ich wohne in einer Spielstraße, die nicht wirklich breit ist. Wenn meine Eltern im Urlaub waren, sorgte sie sich um meine Ernährung und wollte am liebsten jeden Tag für mich kochen. Der Zeitmangel verbot mir es aber viel zu oft das Angebot wahrzunehmen. Dennoch konnte sie mich sehr für ihr „Bauernfrühstück“ begeistern. Das waren zwei Scheiben dunkles Brot mit Nürnberger Rostbratwürstchen, Speck, Ei und Petersilie. Das letzte Mal habe ich es wohl irgendwann im vergangenen Jahr gegessen. Wenn ich bei ihr zu Besuch war, fragte sie immer, ob sie mir nicht schnell ein „Bauernfrühstück“ zaubern soll. Ich verschob es am Ende aber immer wieder, da ich aufm’ Sprung war. Dann organisierte sie den 90. Geburtstag von ihrem Mann. Die ganze Familie, alle Söhne, Enkel und Freunde fanden sich am 23.12.2005 im Restaurant „Zum roten Hahn“ ein. Sie hatte sogar Tischkärtchen ausgegeben. Mit ihrer wunderschönen Handschrift mit den schon vorab bestellen Mahlzeiten beschriftet. Vorbestellt, weil ihr Mann nicht so lange auf einem normalen Stuhl sitzen konnte. Als ich am 14.01.2006 ihr Geschenk für meine Marina abholte, sagte sie zu mir: „Wir haben noch ein Bauernfrühstück offen“. Ich wollte es in den kommenden Wochen bei ihr einlösen.

Am vergangenen Samstag rief meine Mutter bei ihr an. Normalerweise telefonierten sie nur unter der Woche. Ihr ging es nicht so gut. Meine Mutter merkte es sofort. Sie kann nicht mehr laufen und sehe dauernd Sternchen vor den Augen. Und sie habe starke Schmerzen in der Herzgegend. Ihre Söhne fuhren zu ihr und wollten, dass sie ins Krankenhaus geht. Das lehnte sie ab. Samstagabend brachte mein Vater seinen Vater ins Bett, weil sie es heute nicht mehr schaffte. In der Nacht musste sie auf die Toilette. Sie wurde im Flur ohnmächtig und blieb, weil sie nicht mehr ins Bett zurückkam auf dem Boden liegen. Am Sonntag wurde sie auf Anraten ihrer Kinder vom Notarzt abgeholt. Dieser musste auf sie warten, da ihr Mann noch einen Kuss von ihr wollte.

Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass sie zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen hat. Des Weiteren stimme mit ihrem Blut etwas nicht. Am Montag sollten weitere Untersuchungen folgen. Ich war in der Zwischenzeit bei Marina in Hanau und machte mir schon Samstagabend Sorgen. Nach den Informationen der Äzte war es für die ganze Familie eine Kleinigkeit, die sie in einer Woche wieder hinbekommen würden. Ihr Mann – mein Opa wollte sie am Montag im Krankenhaus besuchen. Nie war er von ihr getrennt, höchstens mal ein paar Stunden. Am Montagmorgen fuhr ich meinen Schatz auf die Arbeit und war um halb acht mitsamt frischen Brötchen zu Hause. Auch ich wollte am Montag ins Krankenhaus, wovon mir meine Mutter noch abriet, da viele Untersuchungen anstanden. Wir frühstückten und ich ging später an den Computer, um ein paar Rechnungen und Briefe zu schreiben. Kurz vor zwölf Uhr kommt meine Mutter mit tränennassen Augen in mein Arbeitszimmer. Die Aorta ist geplatzt. Meine Oma ist tot. Sie wurde 79 Jahre alt und hinterlässt ihren 90 Jahre alten Mann.

Ich liebe dich Oma.
Schlaf gut! Das mit dem Bauernfrühstück holen wir nach!
Mario

Comments

  1. Omas sind tolle Frauen und deine scheint eine ganz besonders tolle (gewesen) zu sein!
    Mein Beileid, Mario!
    NAL

  2. Lieber Mario,

    das hat mich wirklich traurig gestimmt und zu Tränen gerührt. Eigentlich hab ich mir die Augen aus dem Kopf geheult.

    Sei nicht traurig!

    “Es wird aussehen, als wäre ich tot, und das wird nicht wahr sein.”

    Alex

    Ps. Etwas Schöneres habe ich von Dir noch nicht gelesen.

  3. Ganz ehrlich, ich weiss nicht was ich sagen soll.
    Aber ich glaube, Du weisst es, oder?

    Ich bin mit Dir,
    saschaF

  4. Hallo Mario,

    wenn deine Oma das gelesen hätte, wäre sie wohl sehr stolz, dass ihr Enkel so einen wundervollen Text über sie verfasst hat.

    Ich sitze gerade im meinem Büro und hoffe, dass niemand rein kommt, da mir ebenfalls einige Tränen über die Wangen gelaufen sind…

    P.S. Schutzengel kann man nie genug haben!!!

  5. jetzt melde ich mich aber doch zu wort, was ich unter diesem eintrag eigentlich tunlichst vermeiden wollte: manche dinge will und muss man einfach (mit)teilen!
    und manche dinge kann man sich auch in den kommentaren sparen!

    mario: du hast morgen post von mir, richtige post. weil das hier ist für alles der falsche ort und die falsche zeit.

    kopf hoch,
    annika

  6. Hey Mario,

    ich wünsch Dir und Familie viel Kraft in dieser schweren Zeit!
    Ich weiß, was es bedeutet einen lieben (den liebsten) Menschen zu verlieren. Meine gute Oma (Gott habe sie selig) wurde mir schon mit 13Jahren genommen und es hat lange gedauert dies zu begreifen.

    Ich denke, ich sollte ihr sagen sich mit Deiner Oma mal zu treffen…haben sicherlich einiges gemeinsam:-).

    Kopf Hoch und “herzliches Beileid” von mir!

    Gruß, Ingo (vom Glashaus-Konzert in AB…evtl kannst dich erinnern!?)

  7. Erstmal mein herzliches Beileid Mario.

    Ich habe noch nie einen so kraftvollen Nachruf auf das Leben gelesen und wünsche dir und deiner Familie, dass Ihr sie genau so kraftvoll in euren Herzen weiterleben lasst.

    Haltet die Welt an…NAL

  8. Du hast Sie gut beschrieben. Sehr schöner Text. Ich kenne sie auch. Sie ist meine Tante (Schwester meines Vaters). Leider habe ich sie nur in meinen Kindheitstagen kennenlernen dürfen, da mein Vater irgendwann mal den Kontakt abgebrochen hat. Aber ich kann mich trotzdem noch gut erinnern. Auch an alle Ihre Kinder von denen wahrscheinlich eins Dein Vater ist?
    Liebe Grüsse und alles Gute.

    Markus

  9. Auch von mir,
    als bis jetzt unbekanntem Mitleser,

    mein Herzlichstes Beileid.

    Wie schon mehrere Vor mir geschrieben haben,
    kannst du stolz sein, eine so tolle Oma gahabt
    zu haben, und ich denke auch Sie war stolz, einen so begabten Enkel zu haben.

    Mein Beileid,
    Micha

  10. hey Mario

    find ich total cool das du sowas geschrieben hast oma wäre bestimmt stolz auf dich gewesen wenn sie das gelesen hätte.

    Deine Cousine
    Jeanie Lee Andreya

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